Gedanken zum Thema "Velostadt Zürich"

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Der konvertierte Biker

«If you can’t beat them, join them.» Auf Deutsch: Wenn du sie nicht besiegen kannst, dann mach bei ihnen mit. Vorbei die Zeiten, als mich 3 km/h zu schnell oder 5 Minuten zu lange parkiert 40 Franken kosteten. Vorbei die Zeiten, als ich mich über Kolonnen-Schlängler, Rotlicht-Ignoranten und andere Verkehrsteilnehmer ärgerte, und ich bei 30 km/h im ersten Gang - gezwungenermassen – die Luft verpestete. Vorbei die Zeiten, als ich mich mehr auf die Blitzer als auf den Verkehr konzentriert habe. Zwar fuhr ich auch immer Velo. Als Knabe ohne Schaltung mit Rücktrittbremse, später Rennvelo, noch später Mountainbike. Schon immer gab es Vorschriften und Gesetze, an die man sich meistens hielt. Heute jedoch lebe ich die grenzenlose Freiheit. Ich bin jetzt auch ein «modern urban biker». Was ich nicht alles darf: in der 30er-Zone 50 fahren, Rotlichter ignorieren, Rechtsvortritt? Gilt der noch? Nachts ohne Licht fahren. Stoppsignale, glaube ich, gelten nur für Autos. Ich kann freihändig fahren und zugleich eine SMS schreiben. Ganz geil ist es, auf dem Trottoir alte Leute (noch ältere, als ich es bin) zu erschrecken. Überhaupt: Das Trottoir ist doch sicher für Fahrräder und nicht für Kinderwagen und Fussgänger geschaffen. Was kümmert mich, wenn der Egoist vor mir den rechten Zeiger gestellt hat. Ich kann immer noch rasch vorbeihuschen. Eine kleine Freude jedoch wurde mir leider genommen. Ich darf jetzt in Gegenrichtung die Einbahnstrasse befahren, und der entgegenkommende Automobilist erschrickt nicht mehr. Das Schönste ist: Die Polizei lässt mich zufrieden. Parkuhren und Blitzer sind doch viel lukrativer als die mickrigen Velobussen. Obwohl die topmodernen Kameras sündhaft teuer sind, spriessen sie wie Pilze aus dem Boden. Und natürlich ist ein parkiertes Auto auch viel gefährlicher als ein rasender E-Biker. Nun, ich geniesse meine unendliche Freiheit. Auf meinem Zweirad kann ich tun und lassen, was ich will, und niemand stört sich daran. Einige eigentlich schon. Aber das sind Velofeinde und ewige Nörgler und Motzer. Und wenn diese «ausrufen», dann höre ich es ja doch nicht. Erstens habe ich prinzipiell die Ohrstöpsel drin, und zweitens bin ich dann ja schon lange, auf dem Trottoir natürlich, vorbeigebrettert.

Diesen Text haben wir im Tagblatt der Stadt Zürich vom 03.04.19 gefunden. Er wurde unter der Rubrik Zürich-Echo / Lesermeinungen veröffentlicht. Verfasst hat ihn R. Hänni.